Dennis Thies
DENNIS THIES 1947 in Köln geboren
Studium: Karl Burgeff, Köln / Joseph Beuys, Düsseldorf
1975 KUNSTHALLE RECKLINGHAUSEN, DEUTSCHLAND
1979 KUNSTHALLE RECKLINGHAUSEN, DEUTSCHLAND
1983 NATIONAL MUSEUM, SEOUL, SÜDKOREA
1984 MUSEUM FÜR MODERNE KUNST, EINZELAUSSTELLUNG, SANTIAGO, SPANIEN
1985 KÖLN KUNST, KUNSTHALLE KÖLN, DEUTSCHLAND
1987 SALA DE EXPOSICIONES, EINZELAUSSTELLUNG, PONTEVEDRA, SPANIEN
1985 KÖLN KUNST, KUNSTHALLE KÖLN, DEUTSCHLAND
1992 EXPO 92, SEVILLA: GROUPE SHOW, SEVILLA, SPANIEN
1992 DOCUMENTA IX KASSEL, „ATLANTIS-PROJEKT“, DEUTSCHLAND
1993 STADTHAUS ULM, DEUTSCHLAND
1995 KÖLN KUNST, KUNSTHALLE KÖLN, DEUTSCHLAND
1995 ART STOCKHOLM, KYRA MARALT, SCHWEDEN
1998 KÖLN KUNST, KUNSTHALLE KÖLN, DEUTSCHLAND
2002 HAPPENING IN SÜDTIROL: „DAS GOLDENE HAAR DER DOLASILLA“, DOLOMITEN, ITALIEN
2002 LANDESTHEATER MEMMINGEN AUSTELLUNG ZU „KÖNIG RICHARD III“, DEUTSCHLAND
2002 ALP GALLERIES, NEW YORK: GRUPPENAUSSTELLUNG, N.Y.C., U.S.A.
2003 RHEINISCHES LANDESMUSEUM BONN, EINZELAUSSTELLUNG, DEUTSCHLAND
2004 KUNSTVEREIN GELDERN, KINETICS-FESTIVAL, DEUTSCHLAND
2006 BEACH EXHIBITION, KAMPEN/SYLT, DEUTSCHLAND
2007 BEACH EXHIBITION, KAMPEN/SYLT, DEUTSCHLAND
2007 SKULPTUR „WAITING“, UNIVERSITÄT ULM, DEUTSCHLAND
2008 RATHAUS KÖLN, SKULPTUR, „KÖNIG HEINRICH II“, DEUTSCHLAND
2009 ART FAIR COLOGNE, KÖLN, DEUTSCHLAND
2009 ARTE-TV, FILM-DOKUMENTATION, ART FAIR COLOGNE / KÜNSTLER DENNIS THIES, DEUTSCHLAND
2009 NRW-TV, FILM ÜBER DIE KREATIVEN PHASEN, DEUTSCHLAND
2010 ART FAIR COLOGNE, KÖLN, DEUTSCHLAND
2012 KIRCHE SANKT MICHAEL, KÖLN, DEUTSCHLAND
2016 PÔLE CULUTUREL, CHATELAUDRIN, BRETAGNE, FRANKREICH
2016 HILBERTRAUM, BERLIN, DEUTSCHLAND
2017 HILBERTRAUM, BERLIN, DEUTSCHLAND
2024 HILBERTRAUM, BERLIN, DEUTSCHLAND
Die vorliegende Publikation von Dennis Thies stellt 150 nichtgegenständliche Bilder vor, die mit Acrylfarbe auf Nessel gemalt sind, die meisten etwa 180 mal 160 Zentimeter messend, einige etwas kleiner, andere ein wenig größer. Die Anzahl von 150 ergab sich nicht zufällig, denn die Arbeiten, die Thies 2023 und 2024 gefertigt hat, beziehen sich auf die 150 Psalmen des Sefer Tehillîm, des Buchs der Lobgesänge, das einen wichtigen Teil der jüdischen Tora bildet, und im christlichen Kontext als „Psalter“ oder „Buch der Psalmen“ bekannt ist. Dass sich die Bilder auf die biblischen Psalmen „beziehen“, ist bewusst vage formuliert, denn zunächst ist wichtig zu betonen, worum es Thies mit seinen Arbeiten nicht ging: Sie sind keine Illustrationen der Texte, keine Deutungsversuche, und sie treten auch nicht mit dem Anspruch auf, eine Übersetzung aus der Sprache in die Malerei, vom Wort ins Bild zu leisten. Man könnte eher sagen, dass diese Malerei durch die Psalmen informiert oder initialisiert ist. Die Texte wirken wie ein Katalysator, der einen Malprozess auszulösen vermag, der sich zwar autonom entfaltet, aber doch einen Impuls, eine Stimmung oder einen „Sound“ – ein Lieblingswort von Dennis Thies ¬– aus dem jeweiligen Psalm in sich trägt und in Farbereignisse transformiert. Es kann ein Satz, eine Formulierung, ja schon ein einziges Wort aus dem Psalmentext sein, der die Malerei in Gang setzt, einen Grundton anschlägt, eine Atmosphäre erzeugt, die sich dann im Medium der Malerei artikuliert.
Aber weshalb wählte der Künstler als Ausgangspunkt für seine Bilder ausgerechnet die Psalmen aus, Lieder aus dem alten Israel, aus einer Welt, die uns sehr fremd erscheint; warum eine Poesie, die eng mit dem legendären König David in Verbindung gebracht wird, der womöglich um das Jahr 1000 v. Chr. gelebt hat? Wer sich in die Psalmentexte hineinliest, wird schnell feststellen, dass die Motive, die dort zur Sprache kommen, von zeitloser Bedeutung sind, weil sie auf die Grundverfassung des Menschen zielen. Sie sprechen von Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Krankheit und Genesung, Verfolgung und Rettung, Feindschaft und Rachegelüsten, Einsamkeit und Gemeinschaft, Not und Erlösung, entfalten also das ganze Spektrum der conditio humana. All das ist noch immer aktuell und unmittelbar verständlich; das menschliche Wesen hat sich in den letzten 3000 Jahren nicht allzu sehr verändert. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt aber, um den die Psalmen unablässig kreisen, ist uns Menschen der spätmodernen westlichen Welt weitestgehend verloren gegangen: die Hoffnung auf die Güte und die Macht Gottes. Dieser religiöse Ankerpunkt der Psalmen ist für die meisten von uns eine Leerstelle, leben wir doch längst in einer Epoche, die sich mit Georg Lukács‘ berühmter Metapher der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ charakterisieren lässt.
Dieser Befund ist der Ausgangspunkt des Psalmen-Projekts von Dennis Thies: die Frage nach der (Nicht)-Verankerung unserer Existenz in einem metaphysischen Halt. Es wäre vermessen zu glauben, dass die Kunst die Lücke füllen könnte, die der Verlust der Religion hinterlassen hat – zumal das Gefühl des Verlusts meist schon gar nicht mehr aufkommt, da es mit der Reizüberflutung in der heutigen Mediengesellschaft und der täglichen Überdosis von abertausend Bildern, Informationen und Ablenkungen permanent übertönt und überblendet wird.
Die 150 Bilder sind in einer unkonventionellen Weise gemalt, meist flach am Boden ausgelegt. Thies hat die Farbe geschüttet, mit Tüchern oder den Händen verteilt, sie zum Fließen gebracht, verwischt oder abgeklatscht ¬¬– nur das traditionelle Werkzeug des Pinsels kam nicht zum Einsatz. Der Pinsel ist ein Instrument des Farbauftrags, das per se Distanz zwischen Künstler und Leinwand wahrt; die Arbeitsweise von Dennis Thies hingegen ist unmittelbar, körperlich und direkt. Die Bilder sind nicht auf Spannrahmen aufgezogen und werden ungerahmt mit schlichten Nägelchen an die Wand gepinnt. Diese Präsentationsweise betont ihre Materialität, ihre physische Präsenz. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, finden sich keine festen, klar umrissenen Formen in diesen Bildern, vielmehr wird die Farbe in ihrer Dynamik aktiviert, sie zeigt sich fließend, ausströmend, sich vermischend und in scheinbarer Veränderung befindend, manchmal wolkenhaft leicht, oft wässrig zerfließend, zuweilen zäh wie dickflüssige Lava. Beim Durchblättern des vorliegenden Werkverzeichnisses wird man unentwegt in neue, unerwartete Bildwelten versetzt: von tiefer Finsternis in helles Licht, von grauer Tristesse in heitere Monochromie oder in den Exzess dramatischer Farbkontraste. Allein mit den Mitteln der Farbe und des Farbauftrags gelingt es Thies, der Fülle der existenziellen Situationen und Emotionen, von denen die Psalmen handeln, mit rein künstlerischen Mitteln zu entsprechen.
Die Psalmen-Bilder von Dennis Thies sind ein Angebot, sich auf eine Malerei einzulassen, die in ihrer Vielschichtigkeit und Dynamik eine ganz andere, innigere und geduldigere Einstellung erfordert als das schnelle, Informationen abgreifende Sehen, das wir im Alltag gewohnt sind. Die Bilder scheinen sich permanent zu verändern, je nach dem Fokus, den man darauf richtet. Aus einigem Abstand zeigen sich amorphe Farbflüsse und -ballungen, aus der Nähe oft zarte, haarfeine Strukturen. Bei längerer Betrachtung gewinnen sie aufgrund des vielschichtigen Farbauftrags zunehmend an Tiefe. All das wirkt auf die Imaginationskraft der Betrachter ein, so sehr, dass man in manchen Arbeiten, etwa den Bildern 50, 66, oder 118, zuweilen geisterhafte Gesichter oder Figuren aufscheinen zu sehen glaubt – freilich sind dies Projektionen, zu denen unser Kognitionsapparat angesichts amorpher Strukturen neigt. Schon Leonardo da Vinci hat diesen Wahrnehmungseffekt beschrieben.
Bewusst hat Thies seinen Arbeiten keine Titel gegeben, nur Zahlen, die auf die jeweiligen Nummern der Psalmen verweisen. Man kann die Malerei allein für sich betrachten, es empfiehlt sich jedoch, die entsprechenden Psalmen nachzulesen und zu versuchen, Bild und Text in einen Zusammenhang zu bringen. Dadurch wird die Wahrnehmung assoziativ aufgeladen, so dass es im besten Fall zu Resonanzbeziehungen zwischen einzelnen Textstellen und den visuellen Eigenschaften der Bilder kommt. Wenn man die quadratische Nummer 41 betrachtet, wird ihre nur punktuell von schwachem Lichtschimmer erhellte Finsternis noch düsterer und emotional packender, wenn man im entsprechenden Psalm von der „Bosheit“ der Menschen liest, die dem lyrischen Subjekt einen raschen Tod wünschen: „Wann wird er sterben und sein Name vergehen?“ Die aufgewühlte, erdige, chaotische Farblandschaft in Bild 79 verbindet sich zwanglos mit der Vorstellung der im Psalm angesprochenen Verwüstung der Stadt Jerusalem, die „zu einem Steinhaufen gemacht“ wurde. Und das monochrome Blau im Bild 93, in das man im Anschauen ganz eintauchen und sich darin verlieren kann, wird noch eindringlicher, wenn man liest, dass der HERR „mächtiger als das Tosen großer Wasser“ sei, „mächtiger als die Wellen des Meeres“. Der 150. Psalm, das Schluss-Halleluja, ist ein einziger Lobgesang Gottes. Es kann nicht verwundern, dass er von zahlreichen Komponisten, darunter Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Bruckner und Strawinsky, vertont worden ist. Das entsprechende Schlussbild von Dennis Thies hebt sich schon durch seine schiere Größe und seine Ausrichtung von den anderen Bildern ab: Es ist das einzige Querformat der ganzen Psalmen-Serie und entfaltet eine geradezu kosmogonische Vision wirbelnder, sich ballender Farbnebel, wobei in der Mitte oben eine Lichtinsel aufscheint, in die Dutzende feinster Farbverästelungen hineinzudrängen scheinen.
Ob sich beim Betrachten der Arbeiten von Dennis Thies und im Zusammenklang mit der weit aus der Vergangenheit kommenden Poesie der Psalmen ein Assoziations- und Emotionsraum öffnet, der einen Ankerpunkt für unsere Selbst- und Weltwahrnehmung andeuten kann, ist als Frage in diese Malerei eingeschrieben. Beantworten lässt sie sich nur – falls überhaupt ¬¬– nachdem man sich mit offenen Augen und wachem Geist auf sie eingelassen hat.
Peter Lodermeyer